Auf dem Groitzscher Berge stand vor alter Zeit eine Burg, die dem Grafen Wiprecht gehörte. Der war schon in jungen Jahren so tapfer und hochgemut, dass er in gefahrvollen Kämpfen seine größte Freude fand und viele Feinde mit seiner starken Hand besiegte. Im Jahre 1081 zog er mit dem Ritterheere des deutschen Königs nach Welschland und vollbrachte bei der Belagerung Roms Wunder an Mut und Tapferkeit.

Als nun der König mit seinem Heere vor der festen Stadt Verona lag, musste er mit seinem Hofstaat in einem mächtigen Theaterbau wohnen, in dem bis vor kurzem noch Kämpfe mit wilden Tieren ausgefochten worden waren. Daher kam es, dass in dem einen Käfig noch immer ein Löwe eingeschlossen war.

Einst unterhielten sich die Fürsten und Grafen aus dem Gefolge des Königs über den Grafen Wiprecht und konnten seine Kampfesfreude und seine Unerschrockenheit nicht laut genug rühmen. Da rief der König übermütig: „Wir wollen ihn einmal auf die Probe stellen; mir fällt eben ein hübscher Scherz ein!“ Und er gab Befehl, den Löwen frei und in die Arena hereinzulassen. Da brachten sich alle Mannen sogleich in Sicherheit. Dem Grafen Wiprecht aber ließ er melden, er solle sofort vor seinem König erscheinen und dabei quer durch die Arena schreiten, das sei der kürzeste Weg!

Nichts Böses ahnend, eilte der getreue Wiprecht herbei und stand unvermutet dem Löwen gegenüber, der ein mächtiges Gebrüll erhob und auf ihn zustürzte. Held Wiprecht war aber auch in diesem Augenblick Herr der Lage. „Geschwind, gib mir mein Schwert her!“, rief er seinem Waffenträger zu. Dieser aber nahm es selbst und warf sich für seinen unbewaffneten Herrn dem Löwen entgegen. Wiprecht verließ sich aber auch in höchster Not nicht gern auf die Kraft eines andern. Er riss seinen Knappen zurück und ging ohne Furcht mit der geballten Faust auf den Löwen los. Dem zerzauste er die buschige Mähne so, dass das Tier bald ängstlich vor ihm zurückwich und wieder in seinen Käfig kroch. Nun schritt Wiprecht zum König ins Gemach und fragte ihn, warum man ihn habe rufen lassen. Da erfuhr er denn, dass sich der König mit ihm einen bösen Streich erlaubt habe. Kurz entschlossen und schwer beleidigt bat er sofort um Urlaub, um in die Heimat zurückzukehren, und sprach: „Ich will fortan anderen Fürsten dienen, die sich damit begnügen, meine Standhaftigkeit im Kampfe mit tapferen Recken zu erproben, und die mein Leben nicht zum Vergnügen den wilden Tieren preisgeben.“ Mit diesen Worten ging er davon. Dem König tat es leid, und er bat die Fürsten, sie möchten Wiprecht durch freundliche Worte und reiche Geschenke wieder versöhnen, er wollte ihnen alles doppelt ersetzen. Und sie hatten Erfolg.

Als Wiprecht nach einigen Tagen wieder zum König kam, ging ihm der entgegen, bat ihn um Verzeihung, dankte ihm für seine Treue und schenkte ihm neben vielen Ländereien auch den großen Burgwartbezirk Leisnig im Meißner Lande. Aber dem gewaltigen Wiprecht genügte die Burg, die auf dem niedrigen Dreihügelsberg stand und zum größten Teil aus Holz gebaut war, bei Weitem nicht. Er ließ darum auf dem steilen Felsen links der Mulde eine stattliche Steinburg errichten, die für die Entstehung der Stadt Leisnig den wuchtigen Eckstein bildete. Heute noch erinnert das „Wiprechteck“ an den ersten Leisniger Burggrafen, der zugleich oberster Grund- und Gerichtsherr der großen Leisniger Burggrafschaft war.

Blick auf Burg Mildenstein in Leisnig (Quelle: Sagensammlung, Bd. 1)
Blick auf Burg Mildenstein in Leisnig (Quelle: Sagensammlung, Bd. 1)
Das "Wiprechtseck" der Burg Mildenstein in Leisnig (Quelle: Sagensammlung, Bd. 1, J. Schneider)
Das "Wiprechtseck" der Burg Mildenstein in Leisnig (Quelle: Sagensammlung, Bd. 1, J. Schneider)