Vor tausend Jahren etwa stand auf dem Staupen bei Wendishain eine feste Burg, die dem Ritter Georg gehörte. Ihm war von seinem königlichen Herrn die Aufgabe übertragen worden, die Sorben mit Kreuz und Schwert in Zaum und Zügel zu halten, und das Land für die Ansiedlung deutscher Bauern aufzuschließen. Furchtlos und treu widmete er sich seinem schweren Werke.

Einst weidete ein Schäfer im breiten Muldental seine Herde und war mit ihr bis an den Fuß des Spitzsteins gekommen, ohne zu wissen, daß hier in einer Felsenhöhle ein schrecklicher Drache hauste, der 100 Ellen lang war und einen giftigen Atem spie, der wie Feuer brannte. Als das Ungetüm die Schafe witterte, kroch es langsam und leise aus seinem Versteck hervor und verschlang zehn Tiere auf einmal. Mit angstvollem Blöken und Schreien stob die Herde auseinander; der Schäfer aber eilte zur Burg des Ritters Georg hinauf, erzählte ihm das furchtbare Unglück und bat ihn händeringend um Hilfe. Der edle Ritter besann sich nicht lange, sondern ließ sogleich seinen mutigen Schimmel zäumen, kleidete sich vom Kopf bis zu den Füßen in Eisen, holte aus der Rüstkammer den längsten Speer mit fester Eisenspitze und stärkte sich durch ein kurzes Gebet zu dem schweren Kampfe. Der grässliche Lindwurm lag vollgefressen und faul vor seiner Höhle am Ufer und schlief im Schatten des Felsens. Als er durch das Rossegestampf erwachte, war es zur Flucht zu spät: Der kühne Ritter Georg riss ihm mit dem mächtigen Speer die ganze Bauchseite auf und verwundete ihn tödlich. Das Ungeheuer fauchte und zischte gewaltig, aber sein Atem blieb wirkungslos; es schlug mit dem harten Schwanze derart um sich, dass Felsen, Erde und Wasser erbebten, aber es nützte ihm nichts; es wand sich in tausend gewaltigen Krümmungen, bis es endlich kraftlos in die Fluten der Mulde rutschte und im tiefen Wasser versank. Ritter Georg aber, der das Land von dem Untier erlöste, wird für alle Zeiten als tapferer Drachentöter gepriesen.

Den Ritter Georg mochten die Sorben nicht leiden. Sie sahen in ihm nur den Zwingherrn, dem sie dienst- und abgabepflichtig waren, und den Verächter ihres Glaubens, der ihnen eine neue Religion bringen wollte. Sie schauten verständnislos seinen Mannen ins Gesicht, die ihnen erzählten, dass sie kein Recht an diesem Grund und Boden hätten, da sie fremde Eindringlinge wären; und sie schauten misstrauisch auf die neuartigen, scharfen Ackergeräte aus Eisen, die die Deutschen einführten, denn sie rissen den Acker nur oberflächlich mit der hölzernen Astgabel auf. Täglich ging ihr Blick von dem hochgelegenen Weitzschen aus, mit Wehmut und Ingrimm zugleich, zum breiten Rücken des Staupen hinüber, wo einst der Begräbnis- und Opferplatz ihrer Väter gewesen war, wo aber jetzt die starke Zwingburg der verhassten Deutschen stand. Nimmermehr konnten sie es dem ritterlichen Prediger da drüben vergessen, dass er sie einmal mit dem Schwerte in der Hand und mit heiligem Zorn auf den Lippen auseinander getrieben hatte, als sie sich heimlich zu einem Opferfest für ihre Götter zusammengefunden hatten. Sie schwuren ihm blutige Rache. Als der Ritter Georg einmal ohne Knappen das Südtor seiner Burg verlassen hat, überfallen sie ihn in der Schlucht, die heute der „Teufelsgrund“ genannt wird. Aber sein braver Schimmel springt über sie weg und jagt in wilden Sätzen davon. Die Feinde stürmen hinterdrein, aber das Tier trägt seinen Herrn sicher über Berg und Tal dahin. Plötzlich bäumt es sich hoch auf, denn vor ihm öffnet sich ein Abgrund, der Ross und Reiter verschlingen will.

Ritter Georg steht auf der Höhe des Spitzsteins, und tief unter ihm rauschen die Fluten der Mulde. Ein kurzes Besinnen! Soll er zurück? Doch die Übermacht seiner Feinde bereitet ihm sicher ein qualvolles Ende. Da drüben am anderen Ufer jedoch winkt ihm Rettung und goldene Freiheit, denn der Weg zum Bollwerk seiner Getreuen auf dem Westewitzer Burgberg ist nicht mehr weit. Ein Ausblick nach oben! Dann drückt er dem Schimmel die Sporen gar fest in die Weichen und schwebt nach gewaltigem Absprung mit wallendem Mantel hinab in die Tiefe.

„Und der kühne, gräßliche Sprung gelingt,

ihn beschützen höh’re Gewalten;

 wenn auch das Roß zerschmettert versinkt,

der Ritter ist wohl erhalten

Und er teilt die Wogen mit kräftiger Hand,

 und die Seinen stehn an des Ufers Rand

und begrüßen freudig den Schwimmer.

Gott verläßt den Mutigen nimmer!«

(In dem Namen des Dorfes Westewitz, mundartlich „Wiests“, soll die Frage des Ritters Georg enthalten sein, die er unmittelbar vor dem Absprung an sein treues Tier richtete: „Schimmel, wie ist’s?“)

Auf der Flucht vor seinen Feinden tat der Ritter Georg ein feierliches Gelübde. Als ihn nämlich sein treues Ross aus dem Teufelsgrund heraus auf die Höhen nördlich des heutigen Dorfes Nauhain getragen hatte, war es ihm möglich, nach allen Seiten Ausschau zu halten, weil die ersten deutschen Ansiedler hier den Wald gerodet und ihre Äcker angelegt hatten. Hier, wo er also neue Hoffnung schöpfte, bat er den Allmächtigen inbrünstig um Errettung aus der Hand seiner Feinde und gelobte, auf dieser Höhe ein Kirchlein zu erbauen, das weit in das Land hinaus Macht und Größe des Höchsten verkündigen sollte. Ein Stück Pergament, das er mit seinem Namenszug und dem Zeichen des Kreuzes versah und zur Erde fallen ließ, sollte beweisen, wie ernst es ihm mit seinem heiligen Versprechen war. Und Gott half dem mutigen Ritter Georg, der über Höhen und Tiefen hinweg seinen Verfolgern glücklich entging. Zwei Tage später erschien in seiner Burg auf dem Staupen ein deutscher Bauer im Festgewand und im Schmuck seiner Waffen, zeigte ihm das Pergament vor, das er bei der Feldarbeit gefunden hatte, und begehrte Aufschluss darüber. Sofort begab sich Ritter Georg mit seinen Reisigen auf die Nauhainer Höhe, ließ den Platz vermessen und bestimmte, dass die Sorben von jenseit der Mulde sich täglich zur Bauarbeit einzufinden hätten. Es dauerte auch nicht lange, da war die Kapelle fertiggestellt. Die Bauern der neuen Siedlung am Hain (= Nauhain) waren hoch erfreut und beglückt über solch edle Gesinnung und Tat des Ritters Georg und nannten das Kirchlein ihm zu Ehren „Georgenkapelle“. Nach seinem Tode brachten sie sein Bild als ewiges Wahrzeichen darin an.

Nach dem Jahre 1200 entwickelte sich das Kirchlein zur Wallfahrtskapelle, und am 23. April eines jeden Jahres, dem Tag des heiligen Georg, fanden feierliche Umzüge durch die grünenden Fluren statt, bei denen das segenspendende Bild des Heiligen vorangetragen wurde. Mönche aus dem Kloster zu Buch lasen die heilige Messe. Im Jahre 1465 fertigte der Papst sogar einen Indulgenzbrief aus, worin dem, der am Tage des heiligen Georg die Kapelle besucht und zu ihrer Erhaltung und Verschönerung beiträgt, ein Ablass von hundert Tagen zugesichert wird. Erst in der Reformationszeit verlor das Nauhainer Kirchlein seine Bedeutung als Wallfahrtsort. Noch heute erinnert der Name „Mönchssteig“ oder „Meßweg“, der über den „Nonnenberg“ nach Wendishain führt, an die Zugehörigkeit des Nauhainer Kirchleins zum Kloster Buch.

Quelle: A. Horn: Leisniger Heimatsagen, 1936 in Sagensammung Band 1

Blick auf den Spitzstein (Quelle: Sagenhaftes Mittelsachsen, Modellprojekt 2017; Fördergesellschaft Regio Döbeln e.V.)
Blick auf den Spitzstein (Quelle: Sagenhaftes Mittelsachsen, Modellprojekt 2017; Fördergesellschaft Regio Döbeln e.V.)